Der Zinssatz in Höhe von 6% ist verfassungswidrig, da realitätsfern!
/Das Bundesverfassungsgericht hat in der Pressemitteilung vom 18.08.2021 den Beschluss vom 08. Juli 2021 (Az. 1 BvR 2237/14 und 2422/17) veröffentlicht, in welchem der Zinssatz i.H.v. 6 % p.a. für Verzinsungszeiträume ab 2014 für verfassungswidrig erklärt wurde.
Die bundesweit einheitliche Regelung der Abgabenordnung stand hinsichtlich der Höhe des Zinssatzes von jährlich 6 Prozent wegen des historischen Zinstiefs schon länger in der Kritik. Seit Einführung im Jahr 1961 und damit seit fast 60 Jahren wurde der Zinssatz nicht mehr geändert.
Ausgangslage
Die Zinsen betragen für jeden Monat 0,5 % (§ 238 Abs. 1 S. 1 AO) und damit pro Jahr 6 %. Der Zinslauf für Steuernachforderungen und -erstattungen beginnt 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist (§ 233a Abs. 2 S. 1 AO).
Beispiel: (vereinfacht)
Die Steuererklärung 2012 wurde am 28.02.2014 beim Finanzamt eingereicht. Der Steuerbescheid erging am 14.08.2014. Die Steuer für 2012 ist mit Ablauf des 31.12.2012 entstanden. Wäre der Steuerbescheid bis zum 31.03.2014 eingegangen, wären keine Zinsen angefallen, da dies innerhalb der Frist von 15 Monaten erfolgte. Der Bescheid erging jedoch nach Ablauf von 15 Monaten, so dass eine Verzinsung von 0,5% für jeden vollen Monat zu berechnen ist. Annahme: Es ergibt sich eine Nachzahlung/Erstattung von 3.000 €. Die Monate April bis Juli werden verzinst. Daraus ergibt sich ein Zinssatz von 4* 0,5% = 2%. Die Zinsen betragen somit 60 €.
Durch eine verspätete Abgabe einer freiwilligen Steuererklärung oder durch Einlegen eines Einspruch gegen einen vorläufigen Bescheid und manchmal auch durch erhöhte Vorauszahlungen konnten sich Steuerpflichtige einen Zinsvorteil verschaffen. Allerdings wäre seit 2019 der Verspätungszuschlag gegenzurechnen, der bei verspäteter Abgabe in Höhe von 0,25% je angefangenen Monats auf jeden Fall festgesetzt wird (§152 AO).
Zuungunsten der Steuerpflichtigen jedoch fielen hohe Zinsen meist bei Änderungen von Steuerbescheiden häufig als Folge einer Betriebsprüfung oder aufgrund von Nachzahlungen insbesondere bei verspäteter Abgabe von Steuererklärungen an.
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht hatte nun zu klären, inwieweit die Zinsen auf Steuernachforderungen bzw. -erstattungen eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG darstellen. Hierbei hat das Gericht Steuerpflichtige, deren Steuer nach der Karenzzeit festgesetzt wird mit Steuerpflichtigen verglichen, deren Steuer innerhalb dieser Karenzzeit festgesetzt wird.
Das Bundesverfassungsgericht hat in zwei Beschwerdeverfahren die Verfassungswidrigkeit des bundesgesetzlichen Zinssatzes, soweit er für Steuernachzahlungen und -erstattungen ab 1. Januar 2014 angewandt wurde, festgestellt. Der Basiszinssatz ist seit Januar 2013 negativ und abweichend von üblichen Zinsschwankungen kann seit 2014 von einer strukturellen und nachhaltigen Entwicklung ausgegangen werden. Die Zinsen aus § 238 AO sind damit vom Marktniveau derart weit entfernt, dass sie nicht mehr als erforderlich und damit als unverhältnismäßig anzusehen sind.
Für Verzinsungszeiträume bis zum 31. Dezember 2018 gilt die Vorschrift dennoch unverändert fort. Dies erachtet das Bundesverfassungsgericht aus Gründen der weitgehend schon abgeschlossenen Veranlagungen und damit einhergehenden verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung und eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs als gerechtfertigt. Anders gesagt: Der Aufwand die Norm und den Zinssatz schon ab dem Jahr 2014 zu ändern wäre höher, als die Norm einfach bis Ende 2018 weiter (verfassungswidrig) anzuwenden (so das Bundesverfassungsgericht).
Der Bundesgesetzgeber hat bis zum 31. Juli 2022 Zeit, eine verfassungsgemäße Neuregelung der Verzinsung, rückwirkend ab 2019, zu beschließen.
Folgen
Ein Überblick:
Zinszeitraum 2014 - 2018: keine Änderung möglich
ab 2019: § 238 AO ist nicht mehr anwendbar, neuer Zinssatz
Das Bundesverfassungsgericht hat keine angemessene Höhe festgesetzt. Wie der Gesetzgeber in Zukunft einen geeigneten Zinssatz bestimmt, ist noch unklar. Nach verbreiteter Meinung erscheint ein Monatszinssatz von 0,25% und damit 3% p.a. als wahrscheinlich.
Müssen Sie etwas tun? In den meisten Fällen war in den Bescheiden schon ein sog. Vorläufigkeitsvermerk erfasst. Dies bedeutet, dass die Bescheide aufgrund dieses Urteils und nach Beschluss eines neuen Zinssatzes von Amts wegen geändert werden. Fallen Zinsen auf Steuernachforderungen an, könnte ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung sinnvoll sein. Damit ein solcher Antrag gestellt werden kann und im Falle, dass ein Vorläufigkeitsvermerkt nicht im Bescheid aufgenommen wurde, bedarf es eines Einspruchs gegen die Zinsfestsetzung. Ob bereits bezahlte Zinsen zurückbezahlt werden müssen, wird sich mit dem anstehenden Gesetzgebungsverfahren klären.
Nachtrag vom 28.09.2021:
Das BMF hat mit Schreiben vom 17.09.2021 zur Umsetzung des Beschlusses des BVerfG v. 18.8.2021 - 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17 bis zu einer rückwirkenden gesetzlichen Neuregelung zur Verzinsung nach §§ 233a, 238 Abs. 1 Satz 1 AO für Verzinsungszeiträume ab dem 1.1.2019 Stellung genommen.